Workshop "Gehörlose Menschen und Demenz"

Am 15. März fand beim BMFSFJ in Berlin der bundesweit erste Expertenworkshop zum Thema „Gehörlose Menschen und Demenz“ statt.
Auf Einladung von Prof. Thomas Kaul,  Universität zu Köln, erörterten etwa 30 Expertinnen und Experten aus Deutschland, Österreich, Großbritannien und den Niederlanden die Situation von gehörlosen Menschen, die dementiell erkrankt sind und diskutierten Möglichkeiten zur Verbesserung diagnostischer Verfahren, therapeutischer Maßnahmen und der pflegerischer Versorgung.

Moderiert wurde der Workshop von Helga Schneider-Schelte, Deutsche Alzheimer Gesellschaft und Stephan Pöhler, dem Beauftragten der Sächsischen Staatsregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen.



Verschiedene Impulsvorträge dienten der thematischen Einführung und Vertiefung:


Sabine Jansen: Demenz

Sabine Jansen

Sabine Jansen ist die Geschäftsführerin der Deutschen Alzheimer Gesellschaft e.V.
Die Deutsche Alzheimer Gesellschaft e.V. Selbsthilfe Demenz ist der Dachverband von den knapp 100 örtlichen Alzheimer Gesellschaften und Landesverbänden und vertritt die Interessen der Betroffenen.

In ihrem Impulsvortrag stellte Frau Jansen insbesondere die Probleme, Wünsche und Bedürfnisse von demenzkranken Menschen und ihren Familien sowie Handlungsansätze aus der Sicht der Deutschen Alzheimer-Gesellschaft vor.

Vortrag von Sabine Jansen
Impulsvortrag Demenz
März 2013
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Thomas Kaul: Das Projekt GIA: Kompetenzzentren für gehörlose Menschen im Alter, insbesondere für Menschen mit Demenz


Thomas Kaul

Prof. Dr. Thomas Kaul hat an der Universität zu Köln einen Lehrstuhl für Pädagogik und Rehabilitation hörgeschädigter Menschen. Schwerpunkt seiner Forschung ist die Situation von Menschen mit Hörschädigungen in unterschiedlichen Lebensphasen und die sich daraus ableitende anwendungsbezogene Evaluation unterschiedlicher Modellvorhaben.
 
Thomas Kaul präsentierte Ziele und Ergebnisse des Projektes SIGMA (2006 bis 2009) und des aktuellen Projektes GIA (Kompetenzzentren für gehörlose Menschen im Alter, insbesondere Menschen mit Demenz, seit 2011. 

Vortrag von Thomas Kaul
Das Projekt GIA: Kompetenzzentren für gehörlose Menschen im Alter, insbesondere für Menschen mit Demenz

März 2013
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Bencie Woll, Joanna Atkinson und Emma Ferguson-Coleman: The Deaf with Dementia Project

Das Projekt von dem die drei Forscherinnen im Rahmen des Vortrags berichteten, gliedert sich in drei Einzelstudien: In der „Studie 1“ wurde ein Test für Gebärdensprachnutzer entwickelt, mit dem kognitive Veränderungen im Zusammenhang mit einer Demenz ermittelt werden sollen. In der „Studie 2“ werden Betroffene zu ihren Erfahrungen mit dem Verlauf der Erkrankung und der Versorgungssituation befragt. „Studie 3“ versucht durch Information und Aufklärung das Bewusstsein innerhalb der Gehörlosengemeinschaft in Hinblick auf die Auswirkungen einer Demenzerkrankung und Möglichkeiten ihrer Bewältigung zu entwickeln.
 
Prof. Dr. Bencie Woll ist seit 2005 Leiterin des Deafness Cognition and Language Research Centre in London und hält die Professur für Gebärdensprache. In ihren Forschungen  beschäftigt sich Bencie Woll mit unterschiedlichen Themen aus dem Bereich der Gebärdensprachen.
Dr. Joanna Atkinson ist Psychologin mit einer neuropsychologischen Zusatzausbildung und arbeitet in Teil 1 des Projekts, das sich mit dem Alterungsprozess des Gehirns bei Gehörlosen beschäftigt.
Emma Ferguson-Coleman (BA Hons; Dipl.Psych.) beschäftigt sich beruflich schon lange mit Gehörlosigkeit und psychischen Krankheiten. Sie arbeitet für das „Deaf with Dementia Research Project“ in Manchester, dabei beschäftigt sie sich vor allem mit der Erhebung qualitativer Daten mittels Interviews (Teilstudie 2 und 3).
 
Das Forscherteam stellte in dem Vortrag Ziele und Ergebnisse des „Deaf with Dementia Project" vor.

Vortrag von Bencie Woll, Joanna Atkinson und Emma Ferguson-Coleman
The Deaf with Dementia Project
März 2013
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Susanne Zank: Potentiale und Risiken familialer Pflege

Susanne Zank

Frau Prof. Zank leitet den Lehrstuhl für Rehabilitationswissenschaftliche Gerontologie und ist Direktorin des Zentrums für Heilpädagogische Gerontologie an der Universität zu Köln. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen Belastungs- und Interventionsforschung bei pflegenden Angehörigen von Demenzpatienten, Interventions- und Rehabilitationsforschung bei alten Menschen und die Evaluation ambulanter und stationärer Versorgung.
Susanne Zank stellt nach einer Einführung zu psychosozialen Interventionen und dem gesellschaftlichen Stellenwert familärer Pflege die Ergebnisse der Längsschnittstudie LEANDER zu Belastungen und Bedürfnis- und Rollenkonflikten pflegender Angehöriger von demenziell Erkrankten vor.

Vortrag von Susanne Zank
Potentiale und Risiken familialer Pflege
März 2013
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Wie kann die Situation gehörloser Menschen mit dementieller Erkrankung verbessert werden?

 - Ergebnisse der Diskussion -

Nach einführenden Statements und Impulsvorträgen einzelner Experten diskutierten die Teilnehmenden zu folgenden Themenschwerpunkten:

  • Merkmale, Diagnose und Verlauf einer dementiellen Erkrankung bei gehörlosen Menschen
  • Zugang gehörloser Menschen zu Versorgungsleistungen bei Demenz
  • Sicherung der Pflege und Versorgung.

Teilnehmende Experten aus verschiedenen europäischen Ländern berichteten von eigenen Erfahrungen und ihren Strategien mit der oft äußerst schwierigen und unbefriedigenden Situation umzugehen. 

Ausgangslage

Die Diskussionen der teilnehmenden Experten zeigten die äußerst problematische Situation gehörloser Menschen auf, die von einer Demenz betroffen sind oder bei denen ein Verdacht auf Demenz besteht.

  • Die gängigen Diagnoseverfahren, die bei hörenden Menschen angewendet werden, basieren auf der deutschen Laut- und Schriftsprache und sind von daher für gebärdensprachlich kommunizierende Menschen weitgehend ungeeignet.
  • Zudem verfügt das medizinische und psychologische Fachpersonal meist nicht über die erforderlichen zielgruppenspezifischen Kenntnisse, so dass eine große Gefahr von Fehldiagnosen oder späten Diagnosen besteht.
  • Auch das allgemeine Versorgungssystem, angefangen bei Beratungsangeboten, z.B. durch Pflegestützpunkte, bis hin zu stationären Wohneinrichtungen, ist nicht auf die Bedürfnisse gehörloser Menschen vorbereitet.
    • Dies hat eine im Vergleich zu hörenden Menschen starke Unterversorgung zur Folge, die allenfalls durch einen erhöhten Leistungseinsatz pflegender Angehöriger aufgefangen werden kann.

Erkenntnisse aus dem europäischen Ausland

  • Experten aus Österreich berichten von „Gehörlosenambulanzen“, die auf die spezifischen Bedürfnisse von Menschen, die in Gebärdensprache kommunizieren, eingestellt sind. 
  • In den Niederlanden steht gehörlosen Menschen im Alter ein zentrales Wohnangebot zur Verfügung, das die spezifischen Bedürfnisse der späten Lebensphase durch fachliche und personelle Ausstattung angemessen berücksichtigt.
  • In Großbritannien wurde der im „Deaf and Demantia Project“ entwickelte Diagnosetest in Britischer Gebärdensprache (BSL) in einer neurologischen Spezialklinik eingesetzt. Von einer flächendeckenden Diagnostik kann jedoch auch in England noch nicht gesprochen werden.

Die Expertinnen und Experten formulieren folgende Bedarfe und Forderungen:

  • Es müssen kurzfristig zuverlässige kultur- und kommunikationsadäquate Verfahren entwickelt und eingesetzt werden, die eine frühzeitige Diagnose einer Demenz bei gehörlosen Menschen ermöglichen.
    • Dies erfordert neben der Entwicklung gebärdensprachbasierter Diagnoseinstrumente die Qualifizierung von Fachleuten, die diese Instrumente einsetzen.
    • In die Entwicklung der Instrumente und bei deren Einsatz und Auswertung müssen gehörlose oder mindestens hoch gebärdensprachkompetente Fachleute eingebunden werden, da Veränderungen in der Gebärdensprache, z.B. die Verwendung von in der Kindheit verwandten Gebärden diagnostisch von hoher Relevanz ist.
    •  Weiter sollten technische Möglichkeiten zur Nutzung visueller Medien weiterentwickelt und erprobt werden, z.B. zum Training und zum Coaching gehörloser Fachleute „aus der Ferne“.
    •  Eine Diagnosestellung lediglich mit Einsatz von Gebärdensprachdolmetschern birgt die Gefahr von Fehldiagnosen. Gerade die Sprache des Betroffenen kann wichtige Anhaltspunkte für die Diagnose liefern. Diese Anhaltspunkte können durch den Übersetzungsprozess beim Dolmetschen verschwimmen und sind so nicht mehr nutzbar.
  • Sowohl bei der Diagnostik als auch bei therapeutischen Maßnahmen lassen sich  Analogien zur Versorgung von Menschen mit Zuwanderungsgeschichte und Demenz erkennen. Erfahrungen und positiv bewertete Strategien sollten auf ihre Übertragbarkeit für gehörlose Menschen überprüft und ggfs. angepasst werden. Dies sind z.B. zur Sensibilisierung und Aufklärung oder sprachfreie Tests zur Feststellung von dementiellen Erkrankungen, die für eine Ersteinschätzung eingesetzt werden. 
  • Fachkräfte in der Versorgung von gehörlosen Menschen mit Demenz müssen über deren spezifische kommunikative Bedürfnisse und kulturelle Besonderheiten aufgeklärt und sensibilisiert werden. Die Erreichbarkeit per Fax oder Email muss sichergestellt werden.
  • Insbesondere gehörlose Angehörige gehörloser Menschen mit Demenz benötigen Informationen, Unterstützung und Angebote zum Austausch und zur Entlastung. Dazu müssen Formen der Beratung und des Austauschs (analog zum „Angehörigentelefon“ oder Chatforen), Selbsthilfegruppen und Pflegekurse in Gebärdensprache weiter ausgebaut werden. Hier kommt den GIA- Kompetenzzentren eine entscheidende Rolle zu.
  • Von entscheidender Bedeutung ist die Aufklärung und Sensibilisierung der Gehörlosengemeinschaft zu Auswirkungen dementieller Erkrankungen und dem angemessenen Umgang mit Betroffenen, um Ausgrenzung zu vermeiden und Anzeichen einer Demenz schon im frühen Stadium zu erkennen. Entscheidend ist hier eine Enttabuisierung des Themas.
  • Der zeitliche Mehrbedarf durch die spezifische Kommunikationssituation gehörloser Menschen bei der pflegerischen, therapeutischen und hauswirtschaftlichen Versorgung muss gesetzlich anerkannt werden und sollte auch im Pflegebedürftigkeitsbegriff berücksichtigt werden.
  • Bei der Planung und Umsetzung von Maßnahmen zur Verbesserung der Situation von gehörlosen Menschen mit Demenz ist die Zusammenarbeit mit gehörlosen Fachleuten und Gehörlosenverbänden von zentraler Bedeutung. 

 
 
Ausblick
 
Alle am Workshop Teilnehmenden sind sich einig, dass ein inhaltlicher und struktureller, europaweiter Austausch initiiert werden sollte, um gemeinsam weiter daran zu arbeiten, die unbefriedigende Situation zur Diagnostik und Versorgung gehörloser Menschen mit Demenz nachhaltig zu verbessern. Ziel sollte ein gemeinsames EU-Projekt sein, um Erfahrungen gegenseitig nutzbar zu machen und gemeinsame Konzepte zu entwickeln. Die Universität zu Köln wird die weitere europäische Kooperation gemeinsam mit möglichen Partnern anstoßen.
 
Die Kompetenzzentren für gehörlose Menschen im Alter, die bisher in Nordrhein-Westfalen und Sachsen eingerichtet sind, werden ihre Arbeit für gehörlose Menschen mit Demenz weiter ausbauen. Die Universität zu Köln berät und unterstützt bei Bedarf Träger in weiteren Bundesländern, die Interesse am Aufbau eines Kompetenzzentrum haben.
 

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