Expertenworkshop „Wohnen im Alter“

Am 10. Februar 2012 veranstaltete die Universität zu Köln im Rahmen des GIA-Projektes beim Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend in Berlin einen Expertenworkshop zum Thema „Wohnen im Alter“. Auf Einladung von Prof. Thomas Kaul diskutierten etwa 30 Expertinnen und Experten aus Deutschland und den Niederlanden, wie die Wohnsituation von gehörlosen Menschen im Alter insbesondere im Fall von Demenz und Pflegebedürftigkeit nachhaltig verbessert werden kann.

Moderiert wurde der Workshop von Klaus W. Pawletko (Freunde alter Menschen e.V.) und Stephan Pöhler (Beauftragter der Sächsischen Staatsregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen).



Im Anschluss an die Begrüßung durch die Gastgeberin des BMFSFJ, MR’in Petra Weritz-Hanf, erfolgte in der ersten Hälfte des Workshops eine Themeneinführung in fünf Impulsvorträgen:


Cathrin Jürgensen-Böttcher: Gehörlose Menschen im Alter

Cathrin Jürgensen-Böttcher, gehörlos und aus gehörloser Familie stammend, arbeitet als Dipl.-Psychologin beim Behandlungszentrum für Hörgeschädigte der Klinik Lengerich des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe mit einem ambulanten und stationären Angebot zur Diagnostik und Behandlung für gehörlose und schwerhörige Menschen mit verschiedenen psychischen Krankheiten.

In Ihrem Kurzvortrag stellt Frau Jürgensen-Böttcher die Zielgruppe „gehörlose Seniorinnen und Senioren“ aus ihrer beruflichen Perspektive vor. Sie erörtert, dass eine Demenz bei gehörlosen Menschen aufgrund fehlender Diagnoseverfahren und mangelnder Kenntnisse behandelnder Ärzte häufig fehlerhaft diagnostiziert wird. Zudem kommt Frau Jürgensen-Böttcher zu dem Ergebnis, dass es in Deutschland kaum geeignete Therapieangebote für die Gruppe demenzerkrankter gehörloser Menschen gibt.

Vortrag von Cathrin Jürgensen-Böttcher
Gehörlose Menschen im Alter
Berlin, Februar 2012
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Thomas Kaul: Gehörlose Menschen im Alter - Projekt SIGMA und Projekt GIA

Prof. Dr. Thomas Kaul hat an der Universität zu Köln einen Lehrstuhl für Pädagogik und Rehabilitation hörgeschädigter Menschen. Schwerpunkt seiner Forschung ist die Situation von gehörlosen Menschen in unterschiedlichen Lebensphasen sowie die sich daraus ableitende anwendungsbezogene Evaluation unterschiedlicher Modellvorhaben.

Thomas Kaul stellt in seinem Vortrag Ziele und Ergebnisse des Projektes SIGMA (2006 – 2009) und des aktuellen Projektes GIA (seit 2011) vor. In dem Projekt SIGMA (Zur Situation gehörloser Menschen im Alter) wurde u.a. eine erhebliche Unterversorgung von älteren gehörlosen Menschen in besonderen Lebenslagen festgestellt. Aus diesem Grunde soll im Projekt GIA (Kompetenzzentren für gehörlose Menschen im Alter, insbesondere für Menschen mit Demenz) u.a. auch die Versorgungslage der Zielgruppe verbessert werden, z.B. durch die Entwicklung neuer Wohnangebote.

Vortrag von Prof. Dr. Thomas Kaul
Zur Situation gehörloser Menschen im Alter
Universität zu Köln
2006 - 2009
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Jan Tempelaar: Welche Dienstleistungen bietet „De Gelderhorst“ für ältere Gehörlose?

Jan Tempelaar ist der Direktor von „De Gelderhorst“, dem nationalen Zentrum für gehörlose Senioren in den Niederlanden. De Gelderhorst bietet gehörlosen Menschen im Alter je nach individueller Lebenssituation angepasste Wohnmöglichkeiten.

In seinem Vortrag stellt Jan Tempelaar das Konzept von De Gelderhorst vor. Das Niederländische Landeszentrum für ältere Gehörlose bietet seinen Bewohnern je nach individueller Lebenssituation angepasste Wohnmöglichkeiten, die die kulturellen und kommunikativen Bedürfnisse berücksichtigen. Derzeit wohnen 170 ältere gehörlose Menschen in De Gelderhorst, davon etwa 100 im selbstständigen betreuten Wohnen. Die positive Resonanz verbunden mit einer Warteliste von 125 Personen belegt die Akzeptanz dieser zentralen Einrichtung unter gehörlosen Menschen in den Niederlanden.

Vortrag von Jan Tempelaar
Welche Dienstleistungen bietet "De Gelderhorst" für ältere Gehörlose?
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Klaus-W. Pawletko: Alt werden in (der) Nachbarschaft

Klaus-W. Pawletko ist Geschäftsführer des Vereins „Freunde alter Menschen e.V.“, der sich schwerpunktmäßig um die ehrenamtliche Betreuung von Menschen mit Demenz kümmert. Darüber hinaus organisiert der Verein betreute Wohnformen für demenzkranke Menschen und unterstützt Initiativen zu deren Verbreitung.

Die überwiegende Zahl älterer Menschen hat den Wunsch, in der eigenen Wohnung alt zu werden und dabei ein hohes Maß an Autonomie zu bewahren. Klaus-W. Pawletko erläutert in seinem Vortrag, wie Wohnquartiere organisiert werden müssen, damit dieser Wunsch auch für Menschen mit Demenz umgesetzt werden kann. Wichtige Bausteine dieses Modells von Community Care sind u.a. ausgebildete Netzwerkstrukturen z.B. bestehend aus Nachbarschaft, Hilfelotsen und Pflegediensten mit spezifischer Kompetenz.

Vortrag von Klaus-W. Pawletko
Alt werden in (der) Nachbarschaft:
Community Care in einem urbanen Wohnquartier
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Die Redner zum Workshop Wohnen


Eva Schulze: Technische Hilfen für Ältere

Dr. Eva Schulze ist geschäftsführende Gesellschafterin und wissenschaftliche Leiterin des BIS (Berliner Institut für Sozialforschung GmbH) und Gastprofessorin am Zentrum Altern und Gesellschaft an der Universität Vechta (2009-2010). In unterschiedlichen Projekten erforscht sie die Möglichkeiten von technischen Hilfen für ältere Menschen.

In ihrem Vortrag stellt Eva Schulze die neue Generation von technischen Hilfen (AAL-Technologien) vor, die die selbständige Lebensführung im Alter unterstützen sollen. Besonders wichtig werden dabei Lösungen und Systeme, die Gesundheit, Sicherheit und Home Care unterstützen, da es immer mehr ältere Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen geben wird. Technische Hilfen, die auch zur Erleichterung der Alltagsorganisation dienen können, sollen dabei auf die Anforderungen und Bedürfnisse der älteren Generation an „Smartes Wohnen“ angepasst werden.

Vortrag von Dr. Eva Schulze
Technische Hilfen für Ältere
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Irina Pfützenreuter: Die Position des Deutschen Vereins

Dr. Irina Pfützenreuter ist Referentin beim Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V. im Arbeitsfeld IV - Alter, Pflege, Rehabilitation, Gesundheit, Grundsatzfragen des Sozialrechts. Einer ihrer Themenschwerpunkte ist „Wohnen im Alter“, insbesondere für Menschen mit Demenz. Irina Pfützenreuter berichtet u.a. über die Empfehlungen des Deutschen Vereins zur Unterstützung und Betreuung demenziell erkrankter Menschen vor Ort. Dabei fordert der Deutsche Verein die Verbesserung der individuellen häuslichen Versorgung Betroffener, bei der die Kommunen die primären sozialen Netzwerke unterstützen können.


Die Teilnehmer des Workshops in der Diskussion


Wie können kultursensible Wohnformen für gehörlose Menschen in unterschiedlichen Lebenslagen konzipiert und gestaltet werden? Ergebnisse der Diskussion

Ausgangslage

Die Expertinnen und Experten sind sich einig, dass gehörlose Menschen in ihren individuellen Bedürfnissen und Wünschen genauso unterschiedlich wie hörende Menschen sind. Daher gilt es, ein Spektrum unterschiedlicher Wohnmodelle zu konzipieren mit dem Ziel, gehörlosen Menschen im Alter ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen und eine Isolation resultierend aus der Gehörlosigkeit zu vermeiden. Als zwingende Voraussetzung dazu benennen die Expertinnen und Experten sowohl die Kommunikation in Deutscher Gebärdensprache als auch eine Anbindung an die Gehörlosengemeinschaft.
 

Dazu ist jedoch eine (Mindest-)Konzentration gehörloser Menschen an einem Ort unabdingbar, auch wenn dies möglicherweise einen Umzug in eine neue Umgebung bedeutet. Die Teilnehmenden des Workshops sind sich einig, dass die zentrale Entscheidung für gehörlose Menschen im Alter ein Dilemma bleibt: Bleibe ich da, wo meine Wurzeln sind oder gehe ich dorthin, wo ich verstanden werde?

Im Workshop wurden folgende Fragestellungen diskutiert:

  • Wie und durch wen können kultursensible Wohnmodelle für gehörlose Menschen im Alter in unterschiedlichen Lebenslagen konzipiert und gestaltet werden? Welche Rolle kommt dabei der Gehörlosengemeinschaft zu?
  • Wie können gehörlose Menschen mit Pflegebedürftigkeit und/ oder dementiellen Erkrankungen angemessen betreut werden?
  • Welche Wege kann man im Sinne einer Ressourcenorientierung gehen?
  • Wie kann man entsprechende Kostenträger dauerhaft mit einbinden?
  • Ist es von Vorteil, Kompetenzen im Hörgeschädigtenbereich zu bündeln (zentrale Einrichtung im Bundesland) oder sollte man bestehende Einrichtungen der Altenhilfe qualifizieren und ausstatten?
  • Wie und durch wen ist die Qualität zu sichern?

Die Expertinnen und Experten formulieren folgende Bedarfe und Forderungen:

  • (Gehörlosen-)kultursensible Wohnmodelle müssen Angebote insbesondere in folgenden, bisher gänzlich unterversorgten Bereichen entwickeln:
    • Angebote zur kleinräumigen Versorgung
    • Angebote zur ambulanten Versorgung (Pflege, haushaltsnahe Dienstleistungen, niederschwellige Betreuungsangebote)
    • Neue Wohnformen wie z.B. Wohn- und Hausgemeinschaften
    • Tagesstrukturierende Angebote zur Freizeitgestaltung und Bildung, Kognitions- und Mobilitätstraining
  • Der durch die Hörbehinderung bedingte Mehraufwand muss im SGB XI definiert sein, um bei der Pflegeeinstufung berücksichtigt werden zu können. Voraussetzung für eine angemessene Pflegeeinstufung ist, dass die begutachtenden Vertreterinnen und Vertreter des MDK über ausreichende Kenntnisse zu Kommunikation und Sozialisation gehörloser Menschen im Alter verfügen.
  • Die Finanzierung von Gebärdensprachdolmetschern muss auch im SGB XI als Pflichtleistung aufgeführt sein.
  • Zur Förderung ehrenamtlichen Engagements oder auch zur Durchführung niedrigschwelliger Betreuungsleistungen nach § 45 c SGB XI ist eine Qualifizierung der (gehörlosen) Mitarbeitenden notwendig. Die Kostenübernahme von Dolmetschereinsätzen im Zusammenhang mit der Ausübung bürgerschaftlichen Engagements ist zu klären.
  • Bei der Konzipierung neuer Wohnmodelle ist die Zusammenarbeit mit gehörlosen Fachleuten und Gehörlosenverbänden von zentraler Bedeutung.
  • Für die Qualitätssicherung sind Handlungsempfehlungen, Leitfäden und Kriterien zur Finanzierung und Umsetzung unterschiedlicher Wohnformen zu entwickeln. Von zentraler Bedeutung sind dabei die Qualifizierung von Mitarbeitern, der Einsatz gehörloser Fachkräfte und die Sensibilisierung und Information von Einrichtungen der Gesundheits- und Altenhilfe.
  • Die Vernetzung und Bündelung von Kompetenzen gehörloser und hörender Fachleute ist zwingend notwendig und sollte ausgebaut werden.

Ausblick

Die Universität zu Köln wird sich an der Erprobung neuer Wohnmodelle beteiligen und diese bei Bedarf mit den im Workshop vertretenen Kooperationspartnern initiieren und begleiten.

Die Universität zu Köln wird einen internationalen Expertenaustausch initiieren mit dem Ziel, die unbefriedigende Situation zur Diagnostik und Versorgung gehörloser Menschen mit Demenz nachhaltig zu verbessern.

Die Kompetenzzentren für gehörlose Menschen im Alter, die bisher in Sachsen und Nordrhein-Westfalen ihre Arbeit aufgenommen haben, werden als zentrale Stellen in Bundesländern die Brückenfunktion zwischen den Angeboten der Gehörlosenarbeit einerseits sowie der Alten- und Gesundheitshilfe andererseits wahrnehmen. Die Universität zu Köln berät und unterstützt bei Bedarf Träger in weiteren Bundesländern, die Interesse am Aufbau eines Kompetenzzentrums haben.

Die Universität zu Köln wird Strukturen zur Vernetzung und zum Austausch initiieren. Dies betrifft zum einen den virtuellen Austausch per email oder über die Internetplattform des Projektes GIA. Daneben sind weitere Workshops geplant, zunächst zu den Themen Demenz und Qualitätssicherung.

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